Prolog
aus: Rock this way – von Sonja Rüther
Los Angeles, 19. August 1999
„Oh mein Gott! Weiß Madonna, dass du ihre 80er-Haare geklaut hast?“
Isabel zog den Kopf ein und sah sich verschämt nach den anderen Gästen um. Der ungehobelte Fremde nahm einen Hut vom Garderobenhaken und setzte sich einfach an ihren Tisch.
„Der Platz ist reserviert.“
„Schon klar. Bis Morten Harket hier auftaucht, bin ich wieder weg, Bella.“
Er drehte sich vorsichtig zur offenen Tür und den großen Fenstern um, durch die der Gehweg vor dem Restaurant zu sehen war, und zog den Stetson tiefer ins Gesicht.
„Wer hier wohl gerade was geklaut hat?“
Mit einem Grinsen legte er die Hände auf den Tisch, als würde ihm die Welt gehören. „Ach das?“ Er deutete auf den Hut. „Ich bin mir sicher, dass er mir besser steht als dem Besitzer.“
Damit hatte er zweifelsohne recht. Der Hut war wie für ihn gemacht, aber Isabel würde sein Ego nicht auch noch mit Komplimenten füttern.
„Was willst du hier? Ich kenne dich nicht mal.“
Der Typ sah sich wieder vorsichtig um und zog den Kopf ein. „Wie es aussieht, habe ich meinen ersten Groupie. Gib mir fünf Minuten, dann verschwinde ich wieder.“ Wie zum Gruß rückte er den schwarzen Stetson zurecht. „Stehst du auf Musik?“
Isabel verschränkte die Arme vor der Brust. „Auf Musik schon, aber nicht auf Musiker.“
Mit einem herausfordernden Funkeln in den Augen beugte er sich zu ihr vor. „Warum lässt du dein Date nicht sausen, und wir finden gemeinsam heraus, ob das stimmt?“
Etwas in ihr wollte aufgeregt aufspringen, den festen Lebensplan zerreißen und in die Luft werfen. Dieser Fremde konnte nicht wissen, dass er mit seiner dämlichen Anmache direkt ihren wunden Punkt getroffen hatte. Der Kerl war smart, gutaussehend wie der Marlboro Mann und sehr von sich überzeugt. Trotzdem fühlte sie sich von ihm angezogen. Oder eher von der Welt, die mit ihm verbunden war. Sie bewunderte Künstler, egal ob sie Musik machten, Bilder oder Filme erschufen oder tanzten.
„Würdest du jetzt bitte gehen?“
„Weil du auf einen Kerl wartest, der dich zum Date nicht mal abholt? Eine so hübsche Frau wie dich würde ich mit einer Limousine hierher fahren.“
Sein Blick wanderte tiefer, und Isabel legte instinktiv eine Hand übers Dekolleté. „Was sagt dir, dass ich nicht mit einer Limousine hergekommen bin? Ich brauche sicher keinen Prinzen, der mich mit seiner Kutsche einsammelt.“
„Ach, so eine bist du.“ Nochmals sah er sich über die Schulter um, aber da war kein Groupie, der nach ihm suchte.
Isabel streckte den Rücken durch. „Du meinst, eine Frau, die für sich selbst sorgen kann?“ Und die nebenbei alle Alltagskosten bezahlte, während ihr Freund sich voll und ganz aufs Studium konzentrierte.
„Warte, jetzt hab ich’s“, verkündete er und grinste sie noch breiter an. „Du hast dich so aufgebrezelt, weil er dir einen Antrag machen will, oder? Wirst du dann deinen Nachnamen behalten?“
Wenig glaubhaft schüttelte sie den Kopf. Dieser Kerl war unglaublich! Setzte sich einfach an ihren Tisch und fing an, sie durcheinanderzubringen. Dabei war sie den ganzen Tag aufgeregt gewesen. Peter war ein schlechter Lügner, wenn es um Überraschungen ging, weswegen sie schon seit mehreren Wochen wusste, dass er sie an diesem Abend fragen wollte.
„Wie alt bist du? Darfst du überhaupt schon Alkohol trinken?“
Nein, das durfte sie nicht. Sie war erst neunzehn, aber in diesem Restaurant nahm das keiner so genau. „Hast du gerade keine anderen Pläne?“, fragte sie genervt.
„Wie Lennon schon sagte: Leben ist das, was passiert, während du fleißig dabei bist, andere Pläne zu schmieden.“
Ach, du kommst mir mit Zitaten? Kann ich auch. „Sorry, aber du siehst nicht aus wie einer, der über den Moment hinausdenkt. Du hältst es doch sicher eher wie Cher: Versuche, so viele Beziehungen zu führen wie du kannst.“
Als er sie begeistert ansah, verlor sich das Angeberische und er fing an, sympathisch zu wirken. „Jemand anderes sein zu wollen, ist eine Verschwendung deiner Person. Hat schon Kurt Cobain gesagt.“
Isabel musste lachen. Das war so ziemlich das amüsanteste Gespräch, das sie seit langem geführt hatte. „Nun, solange du das tust, was du wirklich liebst und einen Weg findest, dass es für dich funktioniert, wirst du ein glücklicher Mensch werden.“
„Wow.“ Das Strahlen, das auf seinem Gesicht entstand, brannte ein Bild in ihr Hirn, das sie nie wieder vergessen würde. „Here comes my girl“, sagte er und legte sich eine Hand auf die Brust. „Mit einem Tom Petty Zitat direkt ins Herz. Du solltest deinen Prinzen sitzenlassen und mit mir kommen.“
Vor Peter hätte sie diesem Mann nicht widerstehen können. Er schien das zu leben, was sie liebte, aber sie wusste, dass seine Welt nicht gut für sie war. Durch ihre Arbeit wusste sie zu viel über Musiker. Mit einem Mann wie ihm konnte sie kein Leben aufbauen. Sie würde sich nur mitreißen lassen, um am Ende mit nichts dazustehen. Dass sie nicht gleich etwas erwiderte, änderte seine Haltung. Das Grinsen erstarb. Er sah ihr in die Augen, als würde er sehen, wer sie hinter der Schminke, den blondierten Haaren und der Maske tatsächlich war. Ihr Herz schlug schneller, während er all diese Wahrheiten aus ihr herauszuziehen schien. Etwas verband sie miteinander, so plötzlich und deutlich fühlbar, dass sie einander nur noch in die Augen sahen. Wenn es nicht undenkbar gewesen wäre, hätte sie das, was sie fühlte, glatt für Liebe gehalten. Es kam ihr vor, als teilte sich etwas von ihr ab, das fortan bei dem Fremden bleiben wollte.
„Isi?“ Peters Stimme holte sie aus einer anderen Dimension zurück. Er stand neben dem Typ und sah jetzt schon wie der Anwalt aus, der er bald sein würde. Der nachtblaue Anzug stand ihm hervorragend.
Als der Fremde aufstand, täuschte der Stetson darüber hinweg, dass Peter größer war als er. „Sorry, Mann, ich fand nur, dass man eine so schöne Lady hier nicht allein lassen sollte.“
Er fasste an die Hutkrempe und lüftete kurz den Stetson in ihre Richtung. „Denk dran, was Kurt gesagt hat“, erinnerte er sie an das Zitat.
„Wer weiß? Wenn du so gut bist, wie du tust, schreibe ich vielleicht mal über dich.“
Peter machte Platz, damit der Kerl an ihm vorbeigehen konnte.
„Du schreibst? Lass mich raten, so kleine Schmuddelbücher?“
Isabel stützte einen Arm auf der Rückenlehne ab und legte die andere Hand auf den Tisch. In ihrem Job musste sie sich tagtäglich behaupten und auf blöde Sprüche reagieren. „Sag mir, wie du heißt, damit ich nicht verpasse, wenn du es aus den kleinen Bars auf richtige Bühnen geschafft hast.“
Peter wurde langsam ungeduldig, aber diesen letzten Wortwechsel musste er noch ertragen. Immerhin hatte er sie warten lassen. Also ignorierte sie, wie sich seine Miene verfinsterte.
Mit einem gewinnenden Lächeln streckte ihr der Mann seine Hand entgegen. „Ben Paxton. Ich werde irgendwann der Opener von Tom Petty sein.“
Isabel stand auf und umfasste seine Hand, die sich warm und fest anfühlte. „Hört, hört. Warum nicht gleich der Mainact in einem Stadion?“
Ben zwinkerte ihr zu. „Jetzt verstehen wir uns.“
Als er sie wieder losließ, wurde ihr kalt, obwohl die Sommerhitze das Lokal über den Tag aufgeheizt hatte. Ben Paxton tippte sich in Peters Richtung an den Hut und ging.
Peter machte einen Schritt auf sie zu. „Was war denn das?“, fragte er und gab ihr einen Kuss.
„Keine Ahnung, aber wenn alle berühmt werden würden, die so große Töne spucken wie der, könnten wir uns vor Megastars kaum retten.“ Neben ihrem Journalismus-Studium arbeitete sie für eine kleine Musikzeitschrift. Sie hatte ständig mit hoffnungsvollen Musikschaffenden zu tun, von denen nie wieder jemand hörte. Aber etwas sagte ihr, dass es bei ihm anders laufen könnte.
Ben Paxton.
Sie setzten sich, und ein Kellner brachte die Karten. „Ich bin echt froh, dass wir uns fürs Lokal entschieden haben. Wenn der Kerl genauso spielt, wie er unverschämt ist, wird das in der Bar richtig laut werden. Du solltest das Filet nehmen, das ist ein Gedicht.“
Konträr zu ihren Gedanken nickte sie zustimmend. Schon vor dieser Begegnung wäre sie lieber zum Konzert gegangen. Nachdem sie bestellt hatten und auf das Essen warteten, über die Ereignisse des Tages sprachen und die Normalität den Abend zurückeroberte, drang Musik durch die offenen Türen aus der Bar rüber. Isabel hörte mit einem Ohr zu und versuchte gleichzeitig, Peters Ausführungen über Paragraphen und auslegungsoffene Gesetzestexte zu folgen. Die Musik gewann. Das, was sie gedämpft hören konnte, klang großartig.
Peter merkte nicht mal, dass sie zu seinen Erzählungen kaum etwas erwiderte. Auch während des Essens nicht.
„Mein Hut ist weg.“ Der Mann, der vor dem leeren Garderobenhaken stand, drehte sich im Kreis und sah sich im Lokal um. Er wirkte wie jemand, der zu jedem Outfit den passenden Stetson besaß und bereit war, einen Mann umzuboxen, um an sein Eigentum zu kommen. Breitschultrig mit Cowboyallüren und mehr Stolz als Liebe in der Brust.
Ich werde dich nicht verraten. Schmunzelnd wandte sie den Blick ab. „Dir steht er tatsächlich besser.
Eine Diskussion mit der Kellnerin entbrannte, die alle Aufmerksamkeit auf den Mann zog. Sogar Peter hielt in seiner Erzählung inne. „Meine Güte, es ist ärgerlich, aber trotzdem nur ein Hut. Der kann sich jetzt mal einkriegen.“
„Hast du was gesagt?“ Der Mann drehte sich zu Peter um, der aufstand und seine Serviette auf den leeren Teller legte.
„Ich sagte, es ist ärgerlich, aber nur ein Hut. Für die Garderobe wird in Restaurants keine Haftung übernommen. Sie brüllen die falsche Person an.“ Jurist durch und durch – Isabel bewunderte die Konsequenz, mit der Peter durchs Leben schritt.
„Warum kommst du nicht mit raus und sagst mir noch mal, wen ich anbrüllen darf oder nicht?“ Der Mann ballte die Hände zu Fäusten, aber Peter blieb ganz ruhig.
„Bringen Sie den Diebstahl zur Anzeige oder gehen Sie. Ich gebe Ihnen gern meine Karte, wenn Sie juristische Hilfe benötigen.“
Die Muskeln im kantigen Gesicht zuckten, aber Peters Taktik funktionierte. Mit Anwälten legte man sich nicht an. Der Kerl fuhr sich mit einer Hand durch die akkurate Frisur, verkniff den Mund, als würde eine Beleidigung darum kämpfen, ausgesprochen zu werden, dann drehte er sich um und stapfte aus dem Lokal.
Isabel wollte nicht, dass ihr Freund sich prügelte. Handgreiflichkeiten waren die primitivste Form von Konfliktbewältigung, und doch hinterließ dieser knappe Wortwechsel ein seltsames Gefühl in ihrer Körpermitte. Als würde der pulsierende Herzschlag ihrer Zukunft schwächer werden.
Er setzte sich wieder und überprüfte den Sitz seiner Krawatte. Seiner blauen Krawatte zum blauen Anzug. „Endlich ist Ruhe“, sagte er zufrieden. „Wie war dein Filet?“
Etwas ernüchtert sah sie auf ihren Teller. Viel hatte sie nicht gegessen. „Gut. Du hattest recht, die Küche ist fantastisch.“ Mit den Fritten in der Bar wäre sie auch zufrieden gewesen.
„Wie war dein Tag? Du hast bislang kaum etwas gesagt?“
Die Teller wurden abgeräumt. Peter schenkte Isabel Wein nach.
„Oh, verrückt, würde ich sagen. In der Redaktion gab es einen Wettstreit, wer kommenden Freitag zu Garth Brooks gehen darf. Wir haben Coins geworfen. Wenn Isaak nicht um einen besser gewesen wäre als ich, hätte ich gewonnen.“
Mit ihrer Welt konnte Peter genauso wenig anfangen wie sie mit seiner. Er hörte interessiert zu, aber die entscheidenden Reaktionen blieben aus. Dabei war Country wenigstens die Musik, die Peter ganz gern hörte, ja manchmal sogar auf der Gitarre spielte. Sie lebten gemeinsam in der Schnittmenge ihrer Lebensentscheidungen. Ein gemütlicher Zwischenraum, der sicher und solide war. Isabels Mutter liebte Peter wie einen Sohn, während seine Mutter versuchte, Isabel zu einer häuslicheren Frau umzuformen.
„Nun, Freitag hast du eh keine Zeit.“
„Richtig“, sagte sie und trank vom Wein. „Das ist mir dann auch eingefallen.“ Nur dass sie eine schnöde Geburtstagsfeier hätte ausfallen lassen, wenn dafür ein Treffen mit Garth Brooks drin gewesen wäre. Diesen Streit mussten sie zum Glück nicht führen.
Sie liebte Peter. Ihr fehlte nur die Anpassungsfähigkeit, sich im neuen Lebensabschnitt gänzlich wohlzufühlen. Er hatte ihr Herz Gitarre spielend am Lagerfeuer erobert. Es war der letzte Sommer vor dem College gewesen. Eine schwerelose Zeit, in der jeder noch mal so sein konnte, wie er wollte, bevor der Ernst des Lebens begann.
Ein Kellner kam an den Tisch und stellte ein Dessert vor ihr ab. Sie aß niemals Dessert. Peter musste es für sie mitbestellt haben. In der Bar nebenan wurde es richtig laut, das Konzert schien zu Ende zu sein.
„Das wird doch sicher nicht alles gewesen sein, oder? Was hast du heute noch gemacht?“, fragte Peter. Er hielt den Dessertlöffel wie einen Kugelschreiber.
Isabel ergriff ebenfalls den Löffel und zog eine Schulter zum Ohr. „Das Übliche. Meine Redakteurin hat mich durch die halbe Stadt gescheucht, um ein paar Loser beim Quälen ihrer Instrumente zu fotografieren. Und das nur, weil Simon denkt, Godgold wäre unser Millennium-Nirvana. Als würden speckige, lange Haare ausreichen, um an Kurt Cob...“ Sie brach mitten im Satz ab. Es kam ihr vor, als würde das Gespräch mit diesem Ben alles überlagern. Schnell senkte sie den Blick, damit Peter nicht bemerkte, wie irritiert sie war. Dabei entdeckte sie ihn: den Ring, der in der Sahne steckte und ihr entgegenfunkelte.
Sie schlug eine Hand vor den Mund. Draußen wurde es noch lauter. Die Barbesucher strömten auf den Gehweg, zündeten sich Zigaretten an und redeten begeistert über den Auftritt.
„Oh Gott, Peter.“ Mit spitzen Fingern zog sie den Ring heraus und säuberte ihn in der Serviette. „Der ist ja wunderschön.“
Peter streckte glücklich die Hand danach aus. „Darf ich?“
Sie übergab ihm den Ring, und Peter kniete sich vor sie. Andere Gäste bemerkten das, hielten in den Gesprächen inne und drehten sich zu dem Paar.
„Isabel Masters, willst du meine Frau werden?“
Aus dem Augenwinkel sah sie Ben mit einer anderen Frau im Arm aus der Bar kommen. Er schob den Stetson aus der Stirn und gab der Frau einen leidenschaftlichen Kuss.
„Ja, ich will.“
Peter steckte ihr den Ring an den Finger, die anderen Gäste klatschten, und Isabel erwiderte den Kuss, den er ihr gab. Das ist der richtige Weg.